Der Fall Otto Studinger
Dr. Karl-Heinz Dietermann, Dr. Konrad Schlude
Ist der Sterbefall Otto Studinger wirklich ein Thema für die Dorfchronik? Man könnte diese Frage vielleicht verneinen, wäre der Tod von Otto Studinger nicht im Jestetter Dorfbuch erwähnt und somit Teil der Jestetter Geschichtsschreibung.
Es ist das große Verdienst des Jestetter Dorfbuches, die vor allem mündlich überlieferten Ereignisse der Euthanasie, der Ermordung von Pfleglingen, auch aus der Kreispflegeanstalt Jestetten festzuhalten (s. Abschnitt »Euthanasie«, Jestetter Dorfbuch, Seiten 283/284). Dort wird beschrieben, wie der erste Abtransport vom 8. August 1940 vorbereitet und durchgeführt wurde. Als Grund gab man die Verlegung in Spezialanstalten an. In Grafeneck (Schwäbische Alb) wurden die abtransportierten ahnungslosen Pfleglinge dann getötet. Erst im Laufe der darauf folgenden Wochen sickerte das Wissen um die Tötungen durch.
Ausgangspunkt der Betrachtungen ist folgender Auszug aus dem Dorfbuch.
Acht Wochen später traf eine weitere Liste für die nächsten 75 Kranken in Jestetten ein. Die Pfleglinge spürten genau die für sie ausweglose Situation. Ein Mann sprang aus dem Fenster des zweiten Stockes und wurde tot aufgefunden. Einer klammerte sich an den Anstaltsleiter und soll geschrien haben: »Hilf mir, die bringen mich um!«
Die heutige Gedenkstätte Grafeneck bestätigt, dass der zweite Abtransport aus Jestetten am 8. Oktober 1940 erfolgte. Neben den bislang 119 namentlich bekannten Opfern (gemäß Angaben der Gedenkstätte Grafeneck) gab es mit der Verzweiflungstat des Sprungs aus dem Fenster mindestens ein weiteres Opfer. Aber tatsächlich ist die Situation etwas komplizierter.
Sterbefälle in der Gemeinde führen zu einem Eintrag im Sterbebuch und der einzige hierzu passende in der besagten Zeit ist der Eintrag 40/1940. Die Staatsanwaltschaft in Waldshut meldete:
Otto Studinger, 1898 in Heppenschwand geboren, lebte als Fabrikarbeiter in Unterlauchringen. Als Todesdatum wird der 10. August 1940 um 5 Uhr genannt, als Todesursache »Selbstmord, Sturz aus dem zweiten Stock«.
Wir kennen also den Namen, aber das Todesdatum widerspricht den Angaben im Dorfbuch. Otto Studinger starb also nicht im Umfeld des zweiten Abtransports am 8. Oktober 1940, sondern kurz nach dem ersten. Unklar ist unter anderem, an welchem Tag der Sturz erfolgte; ferner ist aus den Unterlagen nicht ersichtlich, wie die Staatsanwaltschaft zur Einschätzung eines Selbstmordes kam.
Leider sind die damaligen Akten der Staatsanwaltschaft nicht auffindbar. Vorhanden ist jedoch die Patientenakte aus der »Badischen Heil- und Pflegeanstalt Emmendingen« (Landesarchiv Baden-Württemberg, Staatsarchiv Freiburg E 120/ 1 Nr. 5993). Und diese Akte erlaubt zumindest einen Einblick in das Leben, die Krankheit und den Tod von Otto Studinger.
Otto Studinger arbeitete in der Lauffenmühle in Lauchringen. Aus einer 1929 geschlossenen Ehe gab es gemäß Unterlagen auch ein Kind. Ab Mitte der 1930er-Jahre zeigten sich bei ihm Anzeichen einer Erkrankung, die seine Arbeitsfähigkeit zunehmend einschränkten. In der Patientenakte ist zu lesen:
Es sei ihm damals aufgefallen, daß er immer gegen den Himmel habe gucken müssen und daß er zu zittern angefangen habe. Mit der Zeit hätte dieses Zwangssehen nach oben zugenommen. Bei der Arbeit sei er nicht mehr so recht mitgekommen, da ihm eben die Arbeit nicht mehr so schnell von den Fingern gegangen sei wie den anderen Leuten. Er habe Schwierigkeiten beim Sprechen bekommen und jegliche Behandlung bei seinem Arzt habe keinen Erfolg gehabt.
Sein Zustand verschlimmerte sich zunehmend und schließlich war Otto Studinger nicht mehr fähig, für sich selbst zu sorgen. Da die Ehefrau mit der Erwerbsarbeit beschäftigt war, kam Otto Studinger zuerst ins Spital nach Waldshut und dann, am 13. Februar 1939, nach Emmendingen.
Die Diagnose war »Encephalitis epidemica chronica«, was eine Form einer Gehirnentzündung ist. Erkrankte haben oft ihre Motorik nicht mehr im Griff. Die Akte charakterisiert für Studinger »typisches Aussehen für einen Encephalitiker«, ferner »der Gang ist ausgesprochen spastisch«. Die Menschen seien vom »Zahnradphänomen« geprägt, wodurch die Körperbewegungen nicht mehr fließend sind, sondern ruckartig werden. Die Aussprache Studingers wird mit »ausgesprochen verwaschen« beschrieben.
Die Diagnose Encephalitis epidemica chronica war nach der Pandemie der Spanischen Grippe (1918-1920) recht häufig und führte zu vielen Todesfällen. Auch wenn sich Otto Studinger dessen nicht bewusst gewesen sein mag, so könnte sein Zustand eine Langzeitfolge einer möglicherweise nicht erkannten Spanischen Grippe gewesen sein.
Entsprechend den medizinischen Möglichkeiten der damaligen Zeit wurde Studinger mit einem krampflösenden Medikament behandelt und bereits am 1. März 1939 gab es folgenden Vermerk:
Der Rigor [Starre] der Muskulatur hat sich gemildert, das psychische Befinden des Kranken ist ausgeglichener, die Blickkrämpfe sind nahezu verschwunden. Der Kranke konnte schon nach wenigen Tagen aus seinem Bett herausgebracht werden und in die Arbeitstherapie eingegliedert werden.
In der Folgezeit verbesserte sich sein Zustand jedoch nicht weiter und im Februar 1940 wird Studinger wie folgt beschrieben:
Körperlich und psychisch stabil. Relativ geordnet und sozial, gehört eher zur angenehmeren Kategorie der Encephalitiker.
In die Kreispflegeanstalt Jestetten kam Otto Studinger erst am 10. Juli 1940. Gemäß den Unterlagen wollten er und seine Frau es so, damit er näher bei Lauchringen und somit bei seiner Familie untergebracht war.
Es ist nicht bekannt, was in dieser Zeit bis zu seinem Tod genau passiert ist. Im Jahr 1958 erkundigte sich das Psychiatrische Landeskrankenhaus Emmendingen nach dem Verbleib ihres vormaligen Patienten; solche Anfragen sind im medizinischen Bereich wegen Langzeituntersuchungen durchaus üblich. Das »Sanatorium Schloßberg« beantwortete diese Anfrage wie folgt:
Studinger wurde am 10. Juli 1940 aufgenommen und ist am 10. August 1940 an den Folgen eines Unfalls in selbstmörderischer Absicht verstorben.
Der entsprechende Aktenvermerk lautet:
Studinger setzte sich heute auf den Fenstersims, wurde mehrmals heruntergeholt, auch zweimal von Dr. Lichtenberger, und ins Bett befördert. Seine Verlegung wurde in Gang gesetzt, während dieser Zeit […] setzte sich Studinger wieder auf den Fenstersims und stürzte zum Fenster aus dem 1. Stock hinunter in den Garten.
Verletzungen: Rippenbrüche und linksseitiger U’schenkelbruch, Kopf- und Nasenquetschungen. Behandlung: Reposition-Verband mit Gips.
Die Verletzungen schienen also nicht besonders schwer gewesen zu sein.
Otto Studinger starb am 10. August 1940, also zwei Tage nach dem ersten Abtransport von Pfleglingen nach Grafeneck in die Ermordung. Es ist anzunehmen, dass der Sturz am 9. August oder kurz davor erfolgt ist. Auffallend ist der enge zeitliche Abstand zum ersten Abtransport.
Es bleibt unklar, wie der Fall Otto Studinger gewertet werden muss. Mangels weiterer Quellen kann an dieser Stelle nur spekuliert werden: War es ein Unfall? War es eine Art Trotzreaktion, weil er vielleicht die Unterbringung in einer weiter entfernten Einrichtung fürchtete? Oder befand sich Otto Studinger in einem psychischen Tief und es war suizidale Absicht?
Man kann Otto Studinger wohl nicht als ein direktes Opfer der Euthanasie bezeichnen, da das Wissen um die Tötungen zu jenem Zeitpunkt so nicht bekannt war; das wäre erst bei einem späteren Abtransport der Fall gewesen. Aber ganz unabhängig hiervon ist der Tod Studingers wohl nicht zu betrachten. Und mit hoher Wahrscheinlichkeit wäre auch er umgebracht worden, wäre er nach dem Fenstersturz nicht gestorben.
Auch wenn Otto Studinger nur kurz in Jestetten untergebracht war, seine Krankheitsgeschichte war vermutlich kein Einzelfall. Von daher erlaubt sein Fall zumindest einen interessanten Einblick in die Medizingeschichte und in die Geschichte der Kreispflegeanstalt Jestetten.
Die Encephalitis epidemica chronica trat gehäuft in den Jahren von 1915 bis 1930 auf, also in der Zeit der Spanischen Grippe und danach. Sie wurde auch als Hirngrippe oder Schlafkrankheit bezeichnet. Erstmalig beschrieben wurde sie von Constantin von Economo (1876-1931) und wird daher manchmal auch »Economo encephalitis« genannt. Ursächlich nimmt man eine virale oder postvirale Enzephalitis an mit sowohl körperlichen Merkmalen (Muskelverkrampfungen, insbesondere auch der Augen, mit Blick nach oben, Gangstörungen, Fallneigung, zunehmende Bettlägerigkeit, ausgesprochene Müdigkeit bzw. Schlafkrankheit) als auch seelischen Symptomen (Depression, Paranoia, seelischer Rückzug). Die Erkrankung nahm oft einen bald tödlichen Verlauf.